Keine Autobahn, wir wollen lieber Fahrrad fahr’n… So schallte es aus bald zweihundert Kehlen auf dem halleschen Marktplatz. Anlass war der Start der „Tour de Natur“– einer alljährlich ausgerichteten Fahrradtour für umweltschonende Mobilität und Lebensweise. Jeden Sommer trainieren zwischen 150 und 200 Menschen aus allen Ecken Deutschlands und aus den Nachbarländern nicht nur ihre Waden, sondern auch die Stimmen. Gemeinsam mit Aktiven aus Bürgerinitiativen und Verbänden in den Etappenorten machen sie sich stark für umweltpolitische Forderungen.
Zum Auftakt am 22. Juni 2012 stand gleich ein heiß diskutiertes Verkehrsprojekt im Mittelpunkt: Die umstrittene Saaletal- Autobahn A 143 („Westumfahrung Halle“). Der Startpunkt der Tour war eigens nach Halle verlegt worden, um hier den langjährigen Widerstand engagierter BürgerInnen gegen die geplante Trasse zu unterstützen. Zusammen wurde auf der Auftaktdemo gegen unmäßige Naturzerstörung und die sinnlose Verschwendung von Steuermitteln protestiert. „Die A 143 bringt eine echte Verkehrsentlastung für Halle!” Diesem Hauptargument der BefürworterInnen des fragwürdigen Verkehrsprojekts trat der Bundestagsabgeordnete Stefan Kühn entgegen. Längst sei durch harte Fakten erwiesen, dass Verkehrsprobleme der Stadt Halle in der Stadt selbst entstehen und daher nicht auf eine stadtferne Autobahn verlagert werden können.
Als Sprecher der BI Saaletal und der „Critical Mass” Halle prangerte Conrad Kunze die immense Geldverschwendung für die geplante Autobahn an: „Mit einem Bruchteil der 250 Millionen Euro ließe sich die Stadt verschönern und die Fuß- und Fahrradwege könnten so ausgebaut werden, dass viel weniger Menschen Auto fahren müssten. Das wäre weniger Autoverkehr und mehr Mobilität.“ Damit schlug Kunze auch den Bogen zu den Anliegen der monatlichen Fahrraddemos in Halle: „Mobilität demokratisch zu gestalten, heißt, das Auto zurückzudrängen. […] Wir, die Critical Mass Halle, fordern die Straßen unserer Stadt zurück, für Fußgänger und Radfahrer, für Kinder und alte Menschen. Die Autos sollen sich an die Stadt anpassen, nicht andersherum! Wir fordern das Recht für alle Hallenser, ungestört von Lärm und schlechter Luft wohnen zu können.“
Die erste Etappe der „Tour de Natur“ führte von Halle nach Könnern. Dabei querte die Raddemo in Salzmünde/Schiepzig die geplante Trasse der A 143. Dorthin hatten betroffene AnwohnerInnen zu einer ungewöhnlichen Protestaktion eingeladen. „Die Zerschneidung unserer zusammengewachsenen Ortschaft durch eine überdimensionierte Autobahn wollen wir uns nicht gefallen lassen“, so Ute Barkau aus Schiepzig. „Lärm, Staus und Gestank der geplanten Autobahn setzen völlig unnötig Wohn- und Lebensqualität der Bewohner von Schiepzig und Salzmünde aufs Spiel. Wir fordern: Die Planungen für die A 143 müssen unverzüglich eingestellt werden!“
Die „Tour de Natur” 2012 führte anschließend durch den Fläming, wo sehr viele Menschen nach neuen Wegen für Gesellschaft, Wirtschaften und Zusammenleben suchen. Auch Biohöfe sprießen hier und eine Protestkultur gegen industrielle Landwirtschaft und Interessen von Gentechnik-Konzernen. Erneuerbare Energien werden in der Gegend zwischen Havel und Elbe gefördert und befürwortet, so in der „Solarstadt“ Beelitz und im Energiedorf Feldheim, das sich aus 100 % erneuerbaren Energien speist. Diese guten Ideen nahmen sich die Tour-TeilnehmerInnen für ihre Gemeinden und Regionen mit. Allerdings stießen sie auch auf WindkraftgegnerInnen, selbst unter BiobäuerInnen, was heiße Diskussionen hervorrief. Weiter ging es durch die Uckermark Richtung Ostsee. An der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde wurden Ideen und Projekte vorgestellt sowie über die Energiewende mit all ihren Facetten diskutiert, von den Chancen des ÖPNV bis hin zu Nachteilen der Biogasgewinnung. Ein Stein des Anstoßes ist hier die Uckermark-Starkstromtrasse, mit der aus Polen Strom aus Kohlekraft und in Zukunft vielleicht auch Atomstrom in die Ballungszentren transportiert werden sollen. In Angermünde unterstützte die Tour eine Initiative des Fahrgastverbands PRO BAHN für eine Ertüchtigung der Bahnstrecke nach Szczecin, die auch von der Stadt offiziell befürwortet wird.
Auf dem Weg zum Ziel Greifswald gabes noch viele weitere interessante Stopps und wichtige Themen, so Widerstand gegen Massentierhaltung, Unterstützung gegen rechte Gewalt, Engagement für bessere Radverkehrswege. Die nächste „Tour de Natur” führt vom 28. Juli bis 10. August 2013 von Stuttgart über Würzburg nach Marburg. Jede/r kann mitradeln, mitsingen, mitdemonstrieren, sogar ganz Kleine und junge Alte. Für den Schutz unserer natürlichen Lebensräume und ein sich wandelndes Verhältnis zur Automobilität.
Saaletal-Autobahn A 143/ Die geplante Trasse der A 143 gehört zu den umstrittensten Bauprojekten im Osten Deutschlands. Nach Ansicht des NABU würde die geplante Trasse im Unteren Saaletal zwischen Halle und Wettin eine der letzten noch relativ naturnahen und ungestörten Landschaften in der mitteldeutschen Industrieregion zerschneiden und Naturschätze von europäischer Bedeutung für immer schädigen. Engagierte BürgerInnen wehren sich gemeinsam mit Umweltverbänden seit nunmehr zwei Jahrzehnten erfolgreich gegen die Saaletal-Autobahn. Im Jahr 2007 wurden die Baupläne wegen gravierender Verstöße gegen europäisches Naturschutzrecht durch das Bundesverwaltungsgericht vorläufig gestoppt. Im Laufe des Jahres 2013 ist allerdings eine neue Baugenehmigung zu erwarten, danach wird wohl ein weiteres Gerichtsverfahren über die A 143 entscheiden.
Susanne Timm und Sebastian Voigt
Titelbild: Blick auf Brachwitz, auf der linken Seite des Bildes würde die Autobahn das Saaletal zerschneiden
Unten: Die „Tour de Natur auf dem Markt in Halle/ Streifinger 2012/13